Industrie 4.0: Gefangen in der Phrasendrescher-Blase?

Wie definieren Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum Industrie 4.0 und wie weit sind sie in der "vierten industriellen Revolution" fortgeschritten? Eine 2017er Studie der IDG Communications Media AG gibt erhellende und auch ernüchternde Antworten.


Industrie 4.0 in deutschen Unternehmen
(Manufacturing unter CC0 1.0)

IDG sitzt in München und arbeitet in den Bereichen Medien, Marketing-Services und B2B-Event-Formate. Zum deutschsprachigen Angebot gehören die IT-Fachmagazine CIO, Computerwoche und TechChannel.

Für die vorliegende Studie "Industrie 4.0 2017" kooperierte das Medienunternehmen unter anderem mit SAP und Lufthansa Industry Solutions. Befragt wurden (mittels ca. 340 qualifizierten Online-Interviews) IT-Verantwortliche in Deutschland, Österreich und der Schweiz:
  • strategische (IT-)Entscheider aus dem C-Level und den Fachbereichen
  • IT-Entscheider und IT-Spezialisten
Die Befragung fokussierte vor allem das produzierende Gewerbe mit Unternehmen in den Größenordnungen 100 bis 999 sowie 1000 bis 4999 Mitarbeiter. Knapp die Hälfte der befragten Betriebe generiert einen Jahresumsatz zwischen 100 und 999 Millionen Euro.

Vier Fragestellungen der umfangreichen Studie möchte ich genauer beleuchten: Sie verdeutlichen meiner Meinung nach ein grundlegendes Problem des Begriffs Industrie 4.0.

1. Wie definieren Unternehmen Industrie 4.0?

Knapp 70 Prozent der befragten IT-Entscheider sehen in Industrie 4.0 die "Vernetzung von Maschinen und IT". Diese Definition ist sicherlich zutreffend, in ihrer Allgemeingültigkeit aber bereits auf die dritte industrielle Revolution seit den 1970er Jahren anwendbar.

Rund 46 Prozent der Interviewten sehen I4.0 als "direkte Kommunikation zwischen Maschinen", ähnlich viele antworteten mit "Vernetzte Fabriken" sowie "Automatisierte und flexible Produktion".

Rund 40 Prozent denken an "intelligente Maschinen".

Auffallend: Eines der essenziellen Ziele von Industrie 4.0 spielt für die IT-Entscheider anscheinend eine untergeordnete Rolle: Nur knapp 15 Prozent der Befragten verbinden damit die "Produktion mit Losgröße 1" (= die Produktion von Einzelstücken zu den geringen Kosten der Massenproduktion).

2. Wie setzen Unternehmen I4.0 um?

Rund jeder vierte Befragte antwortete mit "Erste Planungen laufen / Informationsphase".

Knapp jeder Fünfte antwortete mit "Noch keine Aktivitäten / keine Planungen".

Eine Minderheit von rund 15 Prozent hat bereits erste Projekte umgesetzt, während nur 3,5 Prozent der befragten Unternehmen I4.0 bereits produktiv verwirklicht haben.

Industrie 4.0 in der Praxis
(Network unter CC0 1.0)

3. Was hält Unternehmen von einer I4.0-Umsetzung ab?

Hier gibt es unter den Antworten ein Spitzen-Trio mit jeweils rund 34 Prozent:
  • "Zu hohe Kosten"
  • "Fehlendes Know-how"
  • "Derzeit andere Prioritäten"

4. Was sind die wichtigsten Technologien der Industrie 4.0?

Mehr als die Hälfte der Befragten sieht Cloud-Computing als wichtigsten technischen Grundpfeiler. Gleichzeitig setzt weniger als die Hälfte der befragten Unternehmen die Cloud tatsächlich ein. Ähnlich sieht es im Bereich Big Data aus.

Weitere Technologien, die als wichtig erachtet werden: IT-Security, Sensorik und Mobility.

I4.0 – gefangen in der Buzzword-Blase?

Ich denke, die Studie verdeutlicht ein Grundproblem von Industrie 4.0: Es gibt keine klare Definition, was eigentlich damit gemeint ist. Und: Viele produzierende Unternehmen scheinen noch keinen Druck zu verspüren, sich mit der Gesamtthematik akut zu beschäftigen

Die cloudbasierte, vernetzte, sich weitgehend selbst steuernde Fabrik, die der Mensch nur noch überwachen muss (Smart Factory): Dieses Big Picture scheint für die meisten Unternehmen noch absolute Zukunftsmusik zu sein.

Setzt man automatisierte Produktionsprozesse als Startpunkt und die Smart Factory als (vorläufigen) Endpunkt, so scheinen IT-Entscheider den Begriff "Industrie 4.0" auf dieser gesamten Bandbreite zu verorten.

Industrie 4.0: Offene Fragen

➧ Was ist noch Industrie 3.0 und wo beginnt die vierte industrielle Revolution? Ist z. B. das Implementieren eines ERP-Systems bereits Industrie 4.0 oder noch 3.0?

➧ Beginnt I4.0 erst, wenn die vielbeschworene Losgröße 1 realisierbar ist?

➧ Welche Rolle spielen künstliche Intelligenz, vorausschauende Wartung (Predictive Maintenance), digital-erweiterte Realitäten (Augmented Reality), digitale Zwillinge (virtuelles Abbild einer Maschine oder Anlage) und 3D-Druck (Neuordnung der herkömmlichen Supply Chain)?

Bei aller Zurückhaltung muss jedem produzierenden Unternehmen bewusst sein, dass die Digitalisierung in die Fertigung vordringt. Disruption und Plattform-Ökonomie werden auch hier zu Dauergästen. Aus Kundensicht ist das Thema Losgröße 1 deshalb ein akutes – womit sich der Kreis zu Industrie 4.0 und Smart Factory wieder schließt.

I4.0 rein technologisch zu betrachten greift aus einem weiteren Grund zu kurz: Eine digitalisierte Fertigung macht noch kein gutes Produkt, keinen guten Prozess und kein gutes Geschäftsmodell. Unternehmen wie Kodak oder Nokia wären auch mit einer Smart Factory gescheitert – nicht ihre Produktion war das Problem, sondern ihre Produkte.

Ich denke, es ist höchste Zeit, die vierte industrielle Revolution aus der Phrasendrescher-Blase zu holen und auf den Boden der Tatsachen zu stellen.

Lasst es mich wissen: Wie schätzt ihr das Thema Industrie 4.0 ein?

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