Inklusion & Barrierefreiheit: "Es ist noch ein weiter Weg, aber es wird besser!"

Wie können Menschen mit Behinderung am Online- und Offline-Leben teilhaben? Welche Chancen und Risiken hält das Web für sie bereit? Das und vieles mehr wollte ich von einem Experten wissen. Zeit für ein Interview!

Markus Wechsler (40) ist Fachkraft Marketing & Kommunikation im Berufsbildungswerk Rummelsberg. Wir trafen uns in einem der gemütlichsten Nürnberger Cafés, dem Balazzo Brozzi am Rosenaupark. Bei einem Kaffee beleuchteten wir eine Stunde lang, wie Menschen mit Handicap innerhalb und außerhalb des Webs ihr Leben meistern.


Markus Wechsler vom Berufsbildungswerk Rummelsberg.
Markus Wechsler ist Fachkraft Marketing & Kommunikation im
Berufsbildungswerk Rummelsberg.
(© Berufsbildungswerk Rummelsberg)

Herr Wechsler, bitte stellen Sie kurz das Berufsbildungswerk Rummelsberg vor.
Das Berufsbildungswerk der Rummelsberger Diakonie ist eines von 52 deutschen Berufsbildungswerken. Unser Haupt-Auftraggeber ist die Bundesagentur für Arbeit. Wir unterstützen junge Menschen mit körperlicher, seelischer oder psychischer Behinderung sowie Menschen mit Lernbehinderung. Unser Ziel ist es, sie in eine Berufsausbildung zu bringen oder konkret auszubilden. Derzeit betreuen wir bundesweit rund 13.000 junge Menschen.

Welche Standorte gibt es in Mittelfranken?
Es gibt zwei. Einen in Nürnberg für Hör- und Sprachgeschädigte des Bezirkes Mittelfranken und einen für Menschen mit Körperbehinderung in Rummelsberg. Wir Rummelsberger haben derzeit 350 Auszubildende an zwei Standorten. Unsere größten Ausbildungsbereiche sind der Metall- sowie der kaufmännische Bereich.

Stichwort Inklusion: Was verbirgt sich hinter dem Begriff?
Inklusion bedeutet für mich ein Miteinander – völlig losgelöst davon, wie oder wie stark ein Mensch eingeschränkt ist. Es geht auch um Achtsamkeit und Gemeinsamkeit. Inklusion ist meiner Ansicht nach ein Grundelement unserer Gesellschaft – egal, ob es die Themen Behinderung, Alter oder Migrationshintergrund betrifft. Oft wird Inklusion auf das Thema Behinderung reduziert. Für mich gibt es aber keinen Unterschied zwischen den Begriffen Inklusion und Integration.

Was bedeutet Barrierefreiheit?
Das Bauwesen prägte den Begriff sehr stark. Für mich geht es bei Barrierefreiheit aber nicht nur um physische Barrieren wie Treppen oder Stufen. Es gibt auch geistige Barrieren, vorrangig inhaltliche. Ein Beispiel: Wie können Unternehmen Website-Texte so verfassen, dass sie für möglichst viele Menschen leicht verständlich sind?


Statistik: Internet-Nutzung von Menschen mit Behinderung in Deutschland
(Quelle: Bundesministerium für Arbeit und Soziales)

Bei Inklusion und Barrierefreiheit geht es um Teilhabe, Gemeinschaft und Miteinander. Dafür klingen beide Begriffe in meinen Ohren sehr kalt. Wäre ein menschlicheres Wording nicht besser?
Die Begriffe sind sehr kalt, jedoch präzise: Ein Begriff wie "Miteinander" wäre zu wenig fassbar. Der Begriff "Inklusion" soll auch auf ein Problem hinweisen, auf einen Missstand, weshalb er auch kalt klingen darf. Beide Begriffe sind Wegweiser und solange wir sie brauchen, sind wir noch nicht angekommen. Die Begriffskälte rührt auch daher, dass beide Bereiche in den letzten Jahren vorrangig wissenschaftlich beleuchtet wurden.

Kommen wir zur Online-Welt: Welche Chancen bietet das Internet Menschen mit psychischer oder körperlicher Behinderung?
Unsere jungen Menschen mit Behinderung nutzen das Internet überdurchschnittlich stark. Es ist ein geschützter Raum, in dem sie sich bewegen können, in dem sie aber auch viel verstecken können. Viele unserer Kids trauen sich leider nicht, auf Facebook & Co. über ihre Ausbildung im Berufsbildungswerk zu sprechen. Es bessert sich, aber viele unserer Azubis würde ich anhand ihrer Facebook-Profile nicht wiedererkennen. Auf der anderen Seite helfen soziale Medien vielen jungen Menschen mit Behinderung sehr stark, Kontakte zu knüpfen und Ängste abzubauen.

Wie hilfreich ist das Web bei der Wissensvermittlung?
Das Internet ist ein wichtiges Lernmittel geworden. Unsere Kids bekommen am normalen Zeitungskiosk keine passgenauen Informationen. Oft klafft eine intellektuelle Lücke zwischen dem normalen Spiegel-Magazin, das sie überfordert, und der Kinderausgabe des Spiegels, die sie unterfordert. Im Netz dagegen können sich unsere Azubis gezielt Informationen suchen, die für sie verständlich sind.


Internet-Nutzung von Menschen mit Behinderung
(© Berufsbildungswerk Rummelsberg)

Welchen Risiken sind Menschen mit Behinderung im World Wide Web ausgesetzt?
Die gängigen Internet-Risiken sind für Menschen mit Behinderung meiner Meinung nach höher. Bereits der Bürger ohne Behinderung erkennt die Risiken oft nicht auf den ersten Blick. Beispiel: Eine betrügerische Mail, die wie ein offizielles Dokument von ebay oder PayPal aussieht, ist für einen Menschen mit Sehbehinderung noch schwerer zu entlarven. Sein Screenreader kann diese Gefahr nicht erkennen [ein Screenreader ist ein Programm, das Menschen mit Sehbehinderung Website- und Mail-Inhalte vorliest – Anm. d. Red.].

Gibt es weitere Risiken?
Menschen mit Behinderung dürfen sich im Web nicht zu wohl fühlen, weil sie sich sonst eventuell komplett in den Cyberspace zurückziehen. Vor allem Menschen mit sozialen Ängsten sind hier sehr gefährdet.

Wie führen Sie Menschen mit Behinderung an das Thema Internet heran?
Wir klären auf und erklären. Unsere Azubis müssen auch lernen, das Smartphone weglegen zu können, weil die Aufgaben im Job gerade wichtiger sind. Wir haben aber keine Zeigefingermentalität, sondern wirken verständnisvoll auf die Jugendlichen ein. Reine Verbote führen zu keinem eigenverantwortlichen Handeln. Die Devise lautet: erst verstehen, dann erziehen.

Lassen Sie uns das Thema Barrierefreiheit genauer beleuchten: Wann ist ein Internet-Auftritt barrierefrei?
Es gibt einen offiziellen Kriterienkatalog für Website-Barrierefreiheit. Die Frage ist natürlich immer, für welche Zielgruppen ich den Online-Auftritt barrierefrei machen will. Ich wehre mich etwas gegen den Begriff "barrierfrei", weil niemand dieses Kriterium komplett erfüllen kann. "Barrierearm" trifft es in meinen Augen besser.


Barrierefreiheit im Behindertengleichstellungsgesetz
(Quelle: Behindertengleichstellungsgesetz BGG)

Wie gut oder schlecht ist es um die Barrierearmut im Web bestellt?
Es ist noch ein weiter Weg, aber es wird besser. Den Website-Betreibern wird klar, dass sie Profis brauchen, um Websites benutzerfreundlich und barrierearm zu gestalten. Das Verständnis wächst.

Wie kann ich als Website-Betreiber sicherstellen, dass meine Online-Präsenz barrierearm ist?
Es ist ein hoher Aufwand, das muss einem klar sein. Es gibt Agenturen, die das übernehmen. Und es gibt viele Checklisten und Prüfprogramme, die aber fachliches Know-how voraussetzen [einen Link-Tipp findet ihr am Ende des Interviews – Anm. d. Red.].

Wenn Sie die Themen Inklusion und Barrierefreiheit gesamtgesellschaftlich betrachten: Wie weit sind wir, was muss sich verbessern und wie lange wird das dauern?
Die Devise sollte lauten: Ich nehme mir die Sterne als Ziel – ich weiß, ich werde sie nie erreichen, aber ich nehme sie mir als Ziel (lacht). Das trifft es ganz gut. In meinen Augen ist die komplette Inklusion nicht umsetzbar. Inklusion darf kein Zwang sein, sondern muss gewollt sein. Hier ist auch die Politik gefragt: Wir kommen nicht weiter, wenn 24 Stunden nach der Wahl alle Inklusionsfragen wieder vergessen sind.

Herr Wechsler, vielen Dank für dieses Gespräch!

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